Ausweichmanöver wegen Müllgefahr

Mit den Bordtriebwerken der ATV-Transporter wurde die ISS-Flugbahn regelmäßig angehoben. Foto:ESA

Mit den Bordtriebwerken der ATV-Transporter wurde die ISS-Flugbahn regelmäßig angehoben. Foto:ESA

Ende Oktober 2014 gaben die großen Radaranlagen auf der Erde Alarm, denn da bewegte sich etwas auf die Internationale Raumstation zu, was diese in eine gefährliche Situation bringen konnte – Weltraummüll. Die Entscheidung musste rasch fallen, denn bei rund 28.000 Stundenkilometern Eigengeschwindigkeit der Station und einer dazu zu addierenden Relativgeschwindigkeit (je nach dem Winkel der Flugbahn) des fremden Objekts bleibt nicht viel Reaktionszeit bis zum Einschlag. Auf ein Kommando aus der Bodenstation zündeten die Bordtriebwerke des europäischen Raumtransporters ATV 5 und brachten den gesamten Stationskomplex aus der Gefahrenzone.
Das ATV beförderte nicht nur Treibstoff für die Bordtriebwerke der Station, sondern hatte solchen auch in den eigenen Tanks vorgehalten. Ein Teil wurde für die Annäherung bis zur Kopplung mit der Station benötigt, mit einer entsprechenden Reserve, falls aus den verschiedensten Gründen mehrere Anflüge nötig sein sollten. Der zweite Teil diente dem Abstiegsmanöver nach vollendeter Mission, als das Vehikel auf eine sichere Absturzbahn mit Ziel Wasserung im Pazifischen Ozean gebracht werden musste.
Der größere Teil indessen diente in der Tat der planmäßigen Korrektur der Stationsflugbahn, weil diese sich im Laufe der Zeit wegen der zwar minimalen, aber immer noch wirksamen Erdanziehung und wegen der Reibung an der sehr dünnen oberen Lufthülle systematisch absenkt. Aus diesem Grund müssen alle paar Wochen die Triebwerke eines der in der Längsachse der Station angekoppelten Raumfahrzeuge gezündet werden – Beschleunigung macht in diesem Falle die Station nicht schneller, sondern entfernt sie nach und nach von der Erde.
Deshalb auch muss diese Beschleunigung immer in der Längsachse erfolgen, denn im Normalbetrieb fliegt die ISS mit den Labormodulen voran. Nur für spezielle Beobachtungen oder den Einsatz mancher Bordgeräte für ganz bestimmte Experimente wird die Station aus dieser Lage gedreht, und das geschieht dann mit den eigenen Bordtriebwerken an den russischen Modulen. Diese jedoch sind winkelig zur Flugbahn angelegt und außerdem viel zu schwach. Sie könnten also die gesamte Station nie solcherart beschleunigen, dass sich daraus eine Bahnänderung ergäbe.
Ist kein ATV am Heck der Station angedockt, dann könnte ein japanisches HTV am Bug ebenfalls die Bahnkorrektur übernehmen (früher machten das die Shuttle-Orbiter an dieser Position). Weil aber diese Vehikel die Station nicht in Flugrichtung ziehen können beziehungsweise konnten, muss vorher die Station um 180 Grad gedreht werden, um schließlich nach der Anhebung wieder in die Ausgangslage zurückzukehren.
Das ist jedoch ein ziemlich mühseliges Verfahren und für schnelle Reaktionen gar nicht geeignet. Aus diesem Grund ist der Kopplungsstutzen am Heck immer besetzt; ist kein ATV da, übernimmt diese Aufgabe ein russischer Progress-Transporter. Koppelt dieser aber ab, weil seine Zeit abgelaufen ist, übernimmt bis zur Ankunft des Nachfolgers ein Sojus-Raumschiff die Aufgabe des externen ISS-Antriebs.
Aus Sicherheitsgründen für die Besatzung ist also diese Position ständig besetzt, und auch nur so konnte die gesamte Station so schnell aus der Gefahrenzone gebracht werden. Rund um die Uhr beobachten Radarstationen auf unserem Planeten den erdnahen Raum und warnen davor, wenn Objekte auf Kollisionsbahnen geraten. So kann zum Beispiel die Radaranlage TIRA des Fraunhofer-Instituts in Wachtberg bei Bonn Objekte von nur zwei Zentimetern Entfernung noch in 1.000 Kilometern Entfernung erkennen. Bei dem sogenannten Weltraummüll, der in der Regel aus abgebrannten Raketenstufen oder ausgedienten Satelliten, aber auch aus Resten explodierter Raumflugkörper besteht, verlässt man sich aber nicht nur auf stichprobenartige Beobachtungen, im Gegenteil: Alle Bruchstücke ab einer bestimmten, für andere gefährlichen Größe werden regelmäßig verfolgt und können sogar eindeutig identifiziert werden!
Im beschriebenen Fall handelte es sich um ein etwa faustgroßes Bruchstück des russischen Kosmos 2251, der 2009 nach einem Zusammenstoß mit einem anderen Satelliten auseinander gebrochen war. Die Bahnverfolgung ergab, dass es in etwa vier Kilometern Entfernung vorbeifliegen würde, was unter den Bedingungen wahrhaft kosmischer Geschwindigkeiten und Entfernungen entschieden zu nahe gewesen wäre.
Die Vorwarnzeit von sechs Stunden war indessen ausreichend, so dass sich die Vertreter der an der ISS beteiligten Raumfahrtagenturen auf das Ausweichmanöver einigen konnten. Mit einer Beschleunigung von 1,8 km/h schoben die Spezialisten des ATV-Kontrollzentrums in Toulouse die Station um einen ganzen Kilometer in die Höhe. Die Gefahr war gebannt.