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Beim Barte des Kometen
67P/Tschurjumow-Gerasimenko heißt der unförmige Körper in den Tiefen des Alls, aber weil das ein Zungenbrecher ist, sagen immer mehr Leute einfach „Tschuri“ zu Rosettas Zielobjekt.
Zehn Jahre Flugzeit sind gar nichts gegen die Einblicke in die Geschichte unseres Sonnensystems, auf welche die Wissenschaftler so sehnsüchtig warten, aber zehn Jahre können sich auch scheinbar endlos hinziehen für alle am Projekt Beteiligten. Nun aber ist es endlich soweit, und beinahe täglich kommen neue Bilder und Daten auf der Erde an, die immer neue Überraschungen für die Wissenschaftler bringen. So gingen diese nach den ersten, unscharfen Bildern aus großer Entfernung noch davon aus, dass der Komet kartoffelförmig sein müsste, doch dann zeigte sich, dass er eher einem Quietscheentchen aus der Badewanne gleicht.
Dann liefen die ersten scharfen Bilder und Temperaturmessungen ein, die darauf hinwiesen, dass „Tschuri“ weniger aus Eis und Staub besteht, wie das eigentlich bei einem Kometen zu erwarten wäre, sondern vielmehr – zumindest an der Oberfläche – wie ein Asteroid mit sehr rauer Oberfläche voller Geröll aussieht. Nähere Erkenntnisse über den inneren Aufbau werden indessen die Untersuchungen der nächsten Monate bringen.
Und überhaupt, die Bilder! Die Älteren unter uns werden sich noch an die europäische Giotto-Mission aus dem Jahre 1986 erinnern, als die Sonde mit 69 Sekundenkilometern in nur 600 Kilometern Abstand am Halleyschen Kometen vorbeiraste. Inmitten des Schweifs des bereits extrem aktiven Kometen, in einer dichten Wolke von Eis, Staub und Gasen, gelangen Giotto ein paar äußerst undeutliche Aufnahmen, auf denen der erdnussförmige Kern halbwegs zu erahnen war, bevor ein starker Teilchenschauer die Kamera und die meisten Bordinstrumente außer Gefecht setzte. Weil man damit gerechnet hatte, wurden alle Daten in Echtzeit zur Erde übertragen, und so blieb der ESA die Genugtuung, als einzige eine Sonde so nahe an einen Kometen herangebracht zu haben.
Nun also, 28 Jahre später, der zweite Anlauf, der bereits jetzt als großer Erfolg gewertet werden kann, denn das wichtigste Ziel ist erreicht worden: einen Kometen so weit entfernt von der Sonne abzufangen, dass er noch nicht aktiv ist, also als scheinbar toter Körper ohne den typischen Kometenschweif in Richtung inneres Sonnensystem fliegt.
Weil sich aber „Tschuri“ rasch der Sonne nähert, ist zügiges Arbeiten am Kometen angesagt. Immerhin sollte entsprechend der ursprünglichen Missionsplanung am 11. November 2014 der Lander Philae auf der Oberfläche niedergehen, sich dort mit Hilfe einer Harpune fest verankern und „Feldforschung“ aus nächster Nähe betreiben. Wenn das alles so funktioniert, wie sich das Wissenschaftler und Techniker vorgestellt haben, werden wir erstmals Einblick in die Entstehung unseres Sonnensystems erhalten, denn nur das Material von Kometen und Asteroiden entspricht noch jenem, aus dem sich vor rund viereinhalb Milliarden Jahren die Planeten formten.
Wenn das geschafft ist, können sich die Experten auf der Erde beruhigt zurücklehnen, denn alles, was dann noch kommt, sind Zugaben im Programm. Zum ersten Mal ist es möglich, direkt vor Ort mitzuerleben, wie ein Komet „erwacht“, wie er sich unter dem Einfluss der Sonnenstrahlung erwärmt, Eis schmilzt und verdunstet und schließlich gemeinsam mit dem Staub auf der der Sonne abgewandten Seite jenen langen, leuchtenden Schweif bildet, der ihn auch von der Erde aus zu einem markanten Zeichen am Himmel macht. Wenn alles so klappt wie geplant, wohlgemerkt!
Immerhin beinhaltet das weitere Programm doch einige Unwägbarkeiten. Da ist beispielsweise die Auswahl des Landeortes für Philae. Er sollte auf der der Sonne zugewandten Seite liegen, damit die Bordakkus mit Hilfe der Solarzellen aufgeladen können, aber wiederum nicht zu warm werden, weil sonst die Gefahr sehr starker Ausgasungen besteht. Diese könnten die Funktionsfähigkeit der Bordinstrumente beeinträchtigen und den Lander möglicherweise, trotz seiner Verankerung, mit sich ins All reißen, so dass er eventuell Teil des Schweifs wird.
Schließlich war eine möglichst glatte Fläche für die Landung wünschenswert, denn in stark zerklüftetem Gelände gibt es kaum sicheren Stand, und zu guter Letzt brauchte man eine quasioptische Verbindung zu Rosetta, weil diese als Relaissatellit die Datenströme zur Erde übertragen wird. Relativ schnell hatten die Experten auf der Erde fünf mögliche Plätze für das Niedergehen von Philae gefunden, und an der mit „J“ bezeichneten Stelle fand die Aktion ihren Höhepunkt.
Allerdings war dieser Platz ebenso wie auch die anderen nicht ideal; an allen musste man Abstriche bezüglich der Anforderungen machen. Aus diesem Grunde auch bestimmten die Wissenschaftler mit dem Terrain „C“ einen Ausweichlandeplatz. Immerhin darf man beim Betrachten der Bilder nicht vergessen, dass diese aus rund 100 Kilometern Entfernung gemacht wurden, und beim Nähergehen konnte noch die eine oder andere böse Überraschung auftauchen.
Eine solche wäre beispielsweise das unerwartete vorzeitige Erwachen des Kometen bei der Annäherung an die Sonne. Eigentlich sollte das bei der derzeitigen Entfernung von mehr als 400 Millionen Kilometern von der Erde nicht zu erwarten sein, aber ganz auszuschließen ist es auch nicht – schließlich hatte Rosetta während der Annäherung bereits einmal entsprechende Aktivitäten auf dem Kometen bemerkt, der sich aber zum Glück recht schnell wieder beruhigt hatte.
So lange also „Tschuri“ inaktiv war, mussten die Wissenschaftler schnell, wenn auch nicht überhastet, handeln. Bis November 2014 war der Komet komplett kartiert und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erforscht. Masse, Massenverteilung, Struktur und chemische Zusammensetzung waren bis dahin bekannt, alle nachfolgenden Untersuchungen bezogen sich auf die langsam entstehende Koma und deren Zusammensetzung.
Am 12. November dann war es endlich soweit. Philae trennte sich von Rosetta und schwebte langsam hinab. Nach quälenden Stunden des Wartens endlich Jubel im Kontrollzentrum, der aber bald abebbte – irgendetwas hatte nicht wie geplant geklappt. Erst einen Tag später lichtete sich der Schleier der Unsicherheit: Die Harpune für die Verankerung im Eis war nicht ausgelöst worden, der Lander prallte vom Kometen ab und sank erst nach zwei Stunden wieder zurück. Schließlich kam er nach einem zweiten, achtminütigen Hüpfer zum Stehen, nur eben nicht am geplanten Landeort, und nun kämpften die Spezialisten um jedes bisschen Energie für die Batterie. Immerhin konnten alle zehn Bordinstrumente eingeschaltet und Fotos sowie Daten empfangen werden. Wenigstens hatte die erste Landung eines von Menschen geschaffenen Flugkörpers auf einem Kometen geklappt; dennoch lag bei diesem schwachen Trost noch viel Arbeit vor den Wissenschaftlern.